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„Das armenische Tor“ von Wilfried Eggers
Peter Schlüter ist endlich wieder da!
Sieben Jahre hat der Jurist und Autor
Wilfried Eggers an seinem neuen und
gerade politisch sehr aktuellen Krimi
gearbeitet.
Hauptfigur in Eggers Romanen ist der
ermittelnde Anwalt Peter Schlüter, der
diesmal konfrontiert wird mit dem
historisch tief verwurzelten Konflikt
zwischen Armenien und Aserbaidschan
um das umkämpfte Gebiet
Bergkarabach sowie der Völkermord der
Türken von 1915 an den Armeniern.
Wie schon im vorherigen Krimi „Paragraf 301“, wird Schlüter
genötigt über seinen ängstlichen Schatten zu springen und
ins gefährliche Morgenland zu reisen, um zu ermitteln.
Eigentlich genießt er sein geregeltes und ruhiges Dasein in
seiner Anwaltspraxis in Hemmstedt. Er liebt seine Familie,
die nordischen Sprachen und steckt mit seinen
Gummistiefeln tief und fest im Hollenflether Moor. Schlüter
ist kein Mann der großen Töne. Eher so nebenbei kommen
seine kritischen und scharfzüngigen Beobachtungen
politischer und menschlicher Missstände zu Wort. Ihm ist
Wichtigtuerei, Verlogenheit und Fanatismus verhasst, so
dass die anwaltliche Robe nicht nur Ausdruck seines
Broterwerbes ist.
In seinem neuen Fall ruft ein Unbekannter in seiner Kanzlei
an und bittet ihn um Hilfe und noch bevor Schlüter einen
Termin vereinbaren kann wird er am Telefon Zeuge, wie der
Mann ermordet wird. In der Tasche des unbekannten Toten
entdeckt man später einen Zettel mit armenischen Namen
und türkischen Orten und eine Quittung eines Cafés im Iran.
Und wie es der Zufall will, bekommt Schlüter noch einen
weiteren „armenischen“ Fall auf den Tisch. Nach einer
Veranstaltung türkischer Völkermordleugner wird die
Armenierin Anahid Bedrosian vergewaltigt und bittet
Schlüter um Hilfe. Schlüter ahnt den hundertjährigen
Schatten, den der Völkermord an den Armeniern wirft. Mit
einer gehörigen Portion Angst im Gepäck und dem Segen
seiner Frau, reist er nach Täbris in den Iran, begleitet von
Anahid, um das Geheimnis des rätselhaften Toten zu lüften.
Mittlerweile hat Wilfried Eggers fünf Romane geschrieben,
die ich alle sehr gerne gelesen habe. Mit dem Krimi
„Paragraf 301“ wurde er für den österreichischen Friedrich-
Glauser-Preis nominiert. Eggers Krimis kennzeichnen sich
durch einen gut recherchierten historischen Kontext. Seine
Figuren sind zuweilen bissig, mit gutem Humor und einer
kleinen Prise Weltklugheit ausgestattet. Wilfried Eggers
kommt hier aus der Gegend. Er arbeitet als Anwalt und
Notar und wer sich in und um Stade ein wenig auskennt,
wird die eine oder andere Anspielung schmunzelnd
wiedererkennen.
Wilfried Eggers „Das armenische Tor“ erschienen 2020 im
Grafit Verlag ,14 €
Andreas Izquierdo „Schatten der Welt“
Andreas Izquierdo lebt in Köln und hat 2007
mit dem Buch „Der König von Albanien“ den
Sir -Walter- Scott- Preis für den besten
historischen Roman erhalten. In dem Roman
„Schatten der Welt“ entführt er den Leser in
die Zeit von 1910 bis 1918 .
Die Geschichte beginnt in Thorn in
Westpreußen. Der schüchterne Carl, der
draufgängerische Artur und die freche Isi sind
gerade 14 Jahre alt und frohen Mutes, dass
der Ernst des Lebens noch ein wenig auf sich
warten lässt. Nicht einmal die Nachricht, dass
ein Komet namens »Halley« die Menschheit
zu vernichten droht, kann die drei
Jugendlichen schockieren. Im Gegenteil,
ungerührt verkaufen sie Pillen gegen den Weltuntergang, während
Halley still vorbeizieht. Inmitten einer Gesellschaft, die von Adligen,
Großgrundbesitzern und dem Militär bestimmt wird, wächst dieses
unzertrennliche Dreigestirn auf. Nach der Schule beginnt Carl eine
Ausbildung zum Fotografen, Artur gründet noch vor der
Volljährigkeit ein Speditionsunternehmen, während Isi darum kämpft,
Abitur machen zu dürfen. Als 1914 die große Weltpolitik über sie
hineinbricht, reißt es die Freunde auseinander. Artur und Carl
werden eingezogen, fernab der Heimat werden die beiden Teil eines
Kriegs, der jede Vorstellungskraft sprengt. Derweil ficht Isi zuhause
in Thorn nicht minder schwere Kämpfe aus. Sie stemmt sich gegen
die Ausbeutung des hiesigen Großgrundbesitzers, sie wehrt sich
gegen ihren grausamen und karrieresüchtigen Vater und sie wird in
Festungshaft genommen. 1918 ist der Krieg endlich vorbei. Nichts ist
geblieben, wie es einmal für die drei Freunde war und doch gibt es
Hoffnung, ein Neuanfang scheint möglich.
Mitreißend mit viel Gefühl und liebevollen Blick für seine Figuren und
historischen Kontext, erzählt Andreas Izquierdo die Geschichte
dreier Jugendlicher, die in den Wirren des frühen 20. Jahrhunderts
ihren Weg suchen. Ich habe dieses Buch bis zur letzten Seite
verschlungen und ich würde mir wünschen, dass es einmal verfilmt
wird. Für mich war es pures „Kopfkino“.
Schatten der Welt ist im Juli 2020 im Aufbau Verlag erschienen und
kostet 16,00 €
Rita Körner
Tom Saller „Ein neues Blau“
Wer sich noch an „Wenn Martha tanzt“ von
Tom Saller erinnert, eines unserer
Empfehlungen in der Buchhandlung, wird sich
auf dieses neue Buch freuen können. Beide
Bücher spielen auf verschiedenen
Zeitebenen. Erneut beschreibt Saller das
eben einer starken und unabhängigen Frau
auf der Suche nach sich selbst. Bei „Martha“
standen die Zeit und die Umstände der
Bauhaus-Ära im Mittelpunkt, in diesem neuen
Roman die Königliche Porzellan-Manufaktur
in Berlin sowie die
japanische Teekultur.
Die 18jährige Anja bekommt von ihrem Lehrer
den Auftrag, sich bei Lili Kuhn als
Gesellschafterin vorzustellen. Die alte Dame ist zunächst überrascht,
lässt sich jedoch auf die Besuche am Nachmittag ein und findet bald
Gefallen an den Treffen. Langsam fasst Lili Vertrauen, erzählt aus
ihrem Leben und bringt Anja das Töpfern bei. Ruhig, feinfühlig und
dennoch in sehr eindringlichen Bildern entfaltet sich Lilis Leben
Schicht um Schicht in den Jahren zwischen 1919 und 1932. Als
junges Mädchen lebte sie mit ihrem jüdischen Vater (die christliche
Mutter ist verstorben) und dem Halbjapaner/-chinesen Takeshi in
Berlin. Lilis Vater betrieb einen Teehandel und hatte in Japan Takeshi
kennengelernt. Dieser war Lilis beständiger Freund und Beschützer
und führte sie in die Geheimnisse der Teekultur sowie der Kalligrafie
ein. Lilli lernte zufällig den Direktor der Königlichen Porzellan-
Manufaktur, Freiherr von Pechmann, kennen und entdeckte dadurch
ihre Leidenschaft für die Porzellanmalerei. Sie wurde Schülerin der
Bauhaus Absolventin in Keramik- und Porzellangestaltung,
Marguerite Friedlaender. Nach dem Umfalltod ihres Vaters, an dem
sie sich selbst die Schuld gab, brach sie jedoch die Ausbildung ab
und verfiel in eine schwere Depressionen. Erst durch den geduldigen
jüdischen Psychotherapeuten Adam, den Lili später heiratet, gelingt
ihr die Genesung. Die Königliche Porzellan - Manufaktur in Berlin,
gegründet von Friedrich dem Zweiten, dessen Schöngeist für die
Porzellanherstellung und die “Geburt” des Farbton “bleu mourant” ,
verantwortlich ist, zieht sich wie ein “blauer Faden” durch die
berührende Erzählung und Lilis Leben. Geschickt verwebt Tom
Saller geschichtliche Fakten mit Fiktion.
Das Buch ist im August 2019 im List Verlag erschienen und kostet
20,- €.
Konstanze Weber-Feldmann
Ann Petry „The Street“
Liebe Leserinnen und Leser,
als im März alle Läden schließen mussten
und ich im dunklen Laden saß um meine
kleine Abholstation zu betreuen, ist mir die
Zeit dank eines Hörbuches nie langweilig
gewesen.
Ganze 11 ½ Stunden habe ich fast süchtig
der Stimme von Bettina Hoppe gelauscht, die
den Roman „The Street“ eingelesen hat. „The
Street“ ist das sehr erfolgreiche Debut der
Afroamerikanerin Ann Petry aus dem Jahre
1946.
Es ist millionenhaft verkauft worden und im
Frühjahr 2020 wurde dieser Klassiker vom
Verlag Nagel & Kimche neu aufgelegt. Der
Roman erzählt die Geschichte von Lutie
Johnson, einer farbigen alleinerziehenden Mutter. Lutie ist klug. Sie
besitzt einen Schulabschluss, ist verheiratet und hat einen kleinen
Sohn. Von Anfang an ist ihre Familie von Geldsorgen geplagt. Im
Gegensatz zu ihrem arbeitslosen Ehemann, findet Lutie weit entfernt
eine Arbeit als Hausmädchen in einer reichen weißen Familie. Große
Ziele, Bildung, Erfolg und Geld sind das Credo der reichen
Oberschicht und Lutie beschließt, dass dies auch für ihr Leben
gelten soll. Um die Reisekosten der Heimfahrten zu sparen, fährt
Lutie nur noch selten nach Hause. Manchmal vergehen mehrere
Wochen ehe sie ihren Mann und ihren Sohn Bupp sieht, was am
Ende dazu führt, dass die Ehe in die Brüche geht.
Lutie ist mit dem Kind auf sich allein gestellt. Zunächst kann sie noch
bei ihrem kriminellen und alkoholabhängigen Vater unterkommen,
doch sie will weg. Raus aus dem Elend der Farbigen, der
mangelnden Bildung und den schlechten Lebensverhältnissen. Wie
die „Weißen“ will sie für sich und ihren Sohn den amerikanischen
Traum vom Schmied des eigenen Glückes nicht aufgeben. So
bezieht sie in Manhatten in der 116th Straße eine schäbige
Dachgeschosswohnung.
Von diesem Schauplatz aus, verfolgen wir, wie dieser amerikanische
Traum eben nicht für Farbige gilt. Sich zu bemühen, fleißig zu sein,
sich zu bilden führt nicht zum Ziel. Die gesellschaftlichen
Gegebenheiten, Rassismus, Sexismus und männliche Gewalt sind
wie eine Betonwand gegen die Lutie voller Wut und Verzweiflung
ankämpft. Eingebettet in ihre eigene Geschichte werden die
Lebensgeschichten der Bewohner in der 116th Straße erzählt. Einer
Straße, die zum Symbol von Ausweglosigkeit und Zerstörung wird.
Schon zu Beginn des Romans lässt uns die Autorin ahnen, dass sich
hier das Glück nicht finden lässt.
„Ein kalter Novemberwind jagte durch die 116th Street. Er rüttelte an
Mülltonnendeckeln, saugte Rollos aus halboffenen Fenstern und
klatschte sie von außen gegen die Scheiben, und er vertrieb
zwischen Seventh und Eighth Avenue fast alle von der Straße, bis
auf ein paar gehetzte Passanten, die versuchten, dem wilden
Ansturm vornübergebeugt die kleinstmögliche Angriffsfläche zu
bieten.“
Bettina Hoppe als Sprecherin dieses Hörbuches hat hier eine wahre
„Meisterleseleistung“ erbracht. Ihre Stimme ist selten weich, sie gibt
der Lutie das Kämpferische, das wütend Aufbegehrende, dabei
immer bemüht rechtschaffend zu bleiben und das Richtige für sich
und ihren Sohn zu tun. Wut, Hoffnung und Verzweiflung – Bettina
Hoppe findet immer den richtigen Ton.
Zur Person von Ann Petry möchte ich noch erwähnen, dass sie
selbst als Farbige sehr privilegiert in Connecticut aufgewachsen ist.
Sie hat Pharmazie studiert und entstammte einer wohlhabenden
Apothekerfamilie. Erst als sie 1938 nach New York zieht erfährt sie
Armut, Gewalt, Ausbeutung und Rassismus gegenüber der
schwarzen Bevölkerung.
„The Street“ ist im Februar 2020 neu erschienen und kostet 24,- €.
Das Hörbuch ist als MP 3 für 22,- € erhältlich.
Judith W. Taschler „Das Geburtstagsfest“
Judith Taschler, die vor einigen Jahren bereits
mit „Die Deutschlehrerin“ -im Übrigen
ebenfalls ein Lesetipp- einen Bestseller
landete, befasst sich in diesem aktuellen
Buch mit den Geschehnissen zur Zeit der
Roten Khmer in Kambodscha und verknüpft
hier ein grausames Kapitel der Zeitgeschichte
sehr geschickt mit der Gegenwart.
Der zwölfjhrige Sohn des aus Kambodscha
stammenden Hauptprotagonisten Kim Mey
hat sich zum bevorstehenden 50. Geburtstag
seines Vaters eine besondere Überraschung
ausgedacht: er findet die Adresse der
ehemaligen Leidensgenossin des Vaters
heraus und sendet eine Mail an Tevi mit der Bitte, als
Überraschungsgast zur Geburtstagsfeier seines Vaters zu
erscheinen. Er erhofft sich, mehr aus der Vergangenheit seines
Vaters zu erfahren. Er weiß nur, was besonders seine Mutter und
Großmutter berichtet haben: dass sein Vater damals auf der Flucht
von Kambodscha nach Thailand das kranke Mädchen Tevi durch
den Dschungel getragen hat und diese damit gerettet hat. Von dort
aus sind sie dann gemeinsam nach Österreich geflohen, wurden dort
von einer Familie aufgenommen und lebten dann gemeinsam wie
Bruder und Schwester dort, bis dann plötzlich und unerwartet der
Kontakt abbrach. Warum?
Leider ist Kim alles andere als begeistert von der Überraschung: er
ist Architekt, hat eine Frau und drei Kinder und hat seit seiner Flucht
1979 stets versucht, seine
Vergangenheit hinter sich zu lassen. Er befürchtet nun, dass seine
Zeit bei den Roten Khmer und die wahren Begleitumstände jener
dramatischen Flucht ans Licht
kommen und alte Wunden wieder aufbrechen. Durch das Erscheinen
von Tevi wird Kim völlig aus der Bahn geworfen. Im Gegensatz zu
Kim erzählt Tevi, die als Fotomodell und UNO-Botschafterin arbeitet,
stets von ihrer Vergangenheit, denn ihre Familie wurde durch das
Regime gerettet und sie selbst überlebte nur durch Zufall.
Die Geschichte spielt auf mehreren Zeitebenen: die Siebzigerjahre in
Kambodscha, die Achtziger und Neunziger in Österreich und
Frankreich und in der heutigen Zeit in Österreich. Wie Puzzleteile
fügen sich die Erinnerungsstücke zusammen und rekonstruieren
eine Chronik der Ereignisse seit 1970, in der die Biografien aller
Beteiligten zusammenlaufen, langjährige Lügen und
Missverständnisse aufgedeckt werden und das schreckliche Ende
einer großen Liebe endlich abschließend verarbeitet wird.
Konstanze Weber-Feldmann
„Das Geburtstagsfest“ ist 2019 bei Droemer Knaur erschienen und
kostet 22 €
John Ironmonger „Der Wal und das Ende
der Welt“
Wir schreiben das Jahr 2020 und erleben zur
Zeit eine weltweite Pandemie, die uns keine/r
je so vorausgesagt hat. Es war und ist uns
immer noch unverständlich, wie es dazu
kommen konnte. Wir stehen fassungslos vor
dem, was jetzt zählt und sehen, dass unsere
Welt nie mehr so sein wird, wie wir sie noch
vor wenigen Wochen erlebt haben.
In dem Buch von John Ironmonger, „Der Wal
und das Ende der Welt“, das vor einem Jahr
bereits erschienen ist, erleben die Figuren
dieser Geschichte das, was auch wir zur Zeit
erleben: in rasantem Tempo verändert sich
das gewohnte Alltagsleben von Grund auf.
Wie reagieren die Menschen in dieser
Extremsituation? Ironmongers These lautet: wenn die Welt
untergeht, dann rücken die Menschen zusammen.
Es geht um ein kleines Dorf, eine Epidemie und eine globale Krise.
Die Geschichte spielt in England, genauer in St. Piran, einem kleinen
Fischerdörfchen in Cornwall an der englischen Südküste. Hier kennt
jeder jeden, alles geht geruhsam seinen Gang. Eines Tages wird ein
junger Mann vom Meer an den Strand angespült. Die
Dorfgemeinschaft, bestehend aus 307 Einwohnern, kümmert sich
liebevoll um den „Gestrandeten“. John Ironmonger hat lauter
liebenswerte, leicht schrullige Charaktere erfunden. Die Landschaft
und die skurrilen Figuren erinnern zwar an Rosamunde Pilcher, doch
bietet uns Ironmonger deutlich mehr als deren ländliche
Herzschmerz-Idylle. Keiner der Dorfbewohner ahnt, dass es sich bei
dem Mann um einen Banker handelt, der aus London geflohen ist,
nachdem er feststellte, dass er offenbar maßgeblich
mitverantwortlich für den Zusammenbruch seiner Bank ist. Kurz
nachdem der junge Mann am Rande des kleinen Fischerdorfes
aufgefunden wurde, strandet an der gleichen Stelle ein Pottwal. Der
Fremde, namens Joe, und die Dorfbewohner müssen beweisen, was
Gemeinsamkeit und individueller Verzicht tatsächlich bewirken kann.
Der Beweis einer echten Gemeinschaft steht an. Unter der Leitung
von Joe schafft es das Dorf, den Wal zurück ins Wasser zu
befördern. Joe ist der Held und die Herzen der Dorfbewohner fliegen
ihm zu.
Doch nun hat das von Joe entwickelte Softwaresystem einen
globalen Kollaps prognostiziert. Dieser Zusammenbruch würde, so
die Prognose, ganz einfach beginnen, indem zuerst ein Teil einer
Lieferkette ausfällt und bald darauf weltweit Nachschubwege und
Systeme zusammenbrechen. Ein Grippevirus, das sich rasant
ausbreitet, verursacht und beschleunigt Chaos und totale Anarchie,
schlimmer als zu Zeiten der spanischen Grippe von 1918.
Angesichts dieser Prognose entschließt Joe sich zu einer
Rettungsaktion für das Dorf. Er verwendet seine gesamten
Ersparnisse, um dafür riesige Mengen an haltbaren Lebensmitteln
zu kaufen. Im Glockenturm der Kirche wird alles eingelagert. Denn -
so lautet die immer wiederkehrenden These: jede Großstadt ist nur
„drei volle Mahlzeiten“ von der Anarchie entfernt.
Und die Grippe kommt. Gewaltig. Wie werden die Dorfbewohner
reagieren? Wird es ein Hauen und Stechen geben oder können die
Menschen eine menschliche Seite offenbaren, der existenziellen
Krise mit Humanität begegnen?
Der Autor verzichtet auf eine überwiegend erzählende Beschreibung
der Ereignisse. Stattdessen nehmen wir teil an den Gesprächen
seiner Romanfiguren und sind auf diese Weise als Leser eng
einbezogen in den dramatischen Ablauf des Geschehens.
Am Ende des Romans stellt sich heraus, dass die Dorfbewohner den
Wal doch nicht retten konnten. Sein Fleisch kann jedoch verwertet
und bei einem großen Weihnachtsmahl zubereitet werden.
Ist das alles, samt „Happy End“ vielleicht doch ein wenig zu weich
gespült? Mag sein. Die frappierenden Parallelen zur Pandemie, die
wir gerade erleben, sind beeindruckend. Gefallen hat mir die
Grundidee und verbunden damit auch für unsere Zeit die Hoffnung
auf Solidarität, Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit.
Anke Jährig
Das Taschenbuch ist im April im Fischer Verlag erschienen und
kostet 12,00 €.
Davide Morosinotto „Verloren in Eis und
Schnee“
Das Buch „Verloren in Eis und Schnee“ wurde
von Davide Morosinotto geschrieben. Es
handelt von zwei Zwilligen, die im 2.
Weltkrieg in Russland um ihr Leben kämpfen.
Wir befinden uns in Leningrad, Juni 1941,
mitten im 2. Weltkrieg. Nadja und Viktor
wohnen mit ihren Eltern in einer Wohnung
mitten in der Stadt. Als die Stadt Leningrad
gefährdet ist, muss der Vater gegen die
Deutschen an der viel zu nahen Front
kämpfen und die beiden Zwillinge sollen mit
den anderen Kindern aus der Stadt evakuiert
werden. Ihre Mutter gibt ihnen einen
wichtigen Ratschlag mit auf den Weg: sie
sollen sich nie trennen. Doch schon am
Leningrader Bahnhof werden sie getrennt und
verschiedenen Zügen zugeteilt. Während Viktor an seinem Ziel,
einem Bauernhof in Sibirien, ankommt, wird Nadjas Zug von
deutschen Bombern angegriffen. Als Viktor das erfährt, begibt er sich
mit ein paar Freunden auf die Suche nach seiner Schwester.
Das ist der Beginn einer langen Reise mit vielen Gefahren und
Problemen. Deutsche Soldaten, die sie jagen und auch der
russische Winter, der an ihren Kräften zehrt. Die Zwillinge schreiben
während der ganzen Zeit in ihr Tagebuch. So wollen sie sich, wenn
sie sich wieder treffen, ihre Geschichten erzählen. Viktor berichtet
auf diese Weise dem Leser von seinem Weg zu seiner Schwester
und Nadja erzählt vom Überleben auf einer Burg in der Nähe von
Leningrad.
Ich finde das Buch toll, da es sehr spannend ist und man es sehr gut
lesen kann. Aufgebaut und gestaltet ist es wie die Tagebücher der
Zwillinge, mit Bildern, Karten und handschriftlichen Notizen. Wenn
man erst einmal angefangen hat, kann man gar nicht mehr aufhören
zu lesen.
Ich würde dem Buch fünf von fünf Sternen geben. Empfehlen kann
ich es für Kinder im Alter von 12 bis 15 Jahren.
Terje Bröhan, 13 Jahre alt
Das Buch ist bei Thienemann erschienen (ISBN 978-3-522-20251-0)
und kostet 18 €.
Carlos Maria Dominguez „Das Papierhaus“
Diese Erzählung beginnt mit dem
wunderbaren Satz „Im Frühjahr 1998 kaufte
Bluma Lennon in einer Buchhandlung in
Soho eine alte Ausgabe der GEDICHTE von
Emily Dickinson und wurde an der nächsten
Straßenecke, als sie gerade beim zweiten
Gedicht angelangt war, von einem Auto
überfahren“.
Bluma lehrte an der hispanistischen
Abteilung der Universität Cambridge. Bei
dem Ich-Erzähler handelt es sich um Blumas
aus Südamerika stammenden Kollegen, der
ihr Büro und ihre Vorlesungen nach ihrem
Tod übernehmen soll. Eines Morgens erhält
der Erzähler ein an die Verstorbene
adressiertes Kuvert mit uruguayischen Briefmarken, ohne
Begleitschreiben, allerdings mit dem -real existierenden– Buch DIE
SCHATTENLINIE von Joseph Conrad. An dem Buch klebt eine
schmuddelige Kruste und die Blattkanten weisen kleine
Zementpartikel auf. In dem Buch entdeckt er eine Widmung von
Bluma, datiert auf das Jahr 1996, adressiert an einen Carlos, mit
Bezug „auf die verrückten Tage in Monterrey“. Nun ist die Neugier
des Erzählers geweckt und er beginnt, Nachforschungen
anzustellen. Er erfährt die Adresse des Absenders und reist nach
Südamerika, um dem geheimnisvollen Carlos Brauer aufzuspüren,
doch dieser scheint verschwunden zu sein. Auf der Suche begegnet
der Erzähler zwei von Carlos´ bibliophilen Freunden, wovon der eine
allein über eine Büchersammlung von 18.000 Exemplaren verfügt.
Der Leser erfährt einiges über Ordnungssysteme (z.B. nie Bücher
von zerstrittenen Autoren nebeneinander platzieren) oder dass das
Lesen der Literatur aus dem 19. Jahrhundert bei Kerzenschein
angenehmer ist und dass man entsprechend der Bücher die
passende Musik auswählen kann, z.B. Wagner, wenn man Goethe
liest. Der Erzähler erfährt durch diese Freunde, dass Carlos noch
weitaus mehr Bücher sein Eigen nannte und geradezu besessen war
vom Kaufen, Lesen und Sortieren seines „Schatzes“. Was dann
passiert, warum er auszog in die Lagune von Rocha, das sei hier
nicht verraten. Erst zum Schluss wird aufgeklärt, warum die
Erzählung „Das Papierhaus“ heißt.
Der Autor beleuchtet die Bibliomanie aus verschiedenen Winkeln,
beschreibt die Freude, Bücherschränke von Bekannten zu
inspizieren, den Aufwand, seine eigene Bibliothek in Schuss zu
halten, aber auch die zerstörerische Seite, wenn die Lesesucht und
Sammelwut zur Obsession wird.
Konstanze Weber-Feldman
Das Buch ist im Insel Verlag erschienen und kostet 8,00 €
Elisabeth Strout „Die langen Abende“
E.Strout, 1956 in Maine geboren, hat Jura
studiert, aber früh erkannt, dass sie lieber
Schriftstellerin werden wollte - welch Glück
für uns Leser/innen.
In ihrem Buch „Die langen Abende“ treffen
wir Olive Knidderridge wieder, die einige von
Ihnen vielleicht aus dem Buch „Mit Blick aufs
Meer“ kennen, für das E. Strout 2008 den
Pulitzer Preis erhalten hat. Eingebettet in die
Rahmenhandlung um Olive finden wir eine
Sammlung miteinander verbundener
Kurzgeschichten, die sich in einer Kleinstadt
in Maine abspielen. Alltägliche Ereignisse
und Einblicke in das Zusammenleben der
Bewohner werden sehr anschaulich
geschildert. All diese Personen sind verknüpft mit der Protagonistin
Olive Knitterridge.
Olive Knitterridge, 70 Jahre alt, pensionierte Mathematiklehrerin,
inzwischen verwitwet, ist mit ihrer Einsamkeit und dem Alter
konfrontiert. Sie lernt Jack Kennison, ehemals Havardprofessor,
kennen, dem es nach dem Verlust seiner Frau ähnlich geht. Sie
gehen das Wagnis einer Beziehung im Alter ein und die Gedanken
und Schwierigkeiten, die damit einhergehen, werden sehr
einfühlsam geschildert. Die Einsamkeit von Olive und Jack findet
auch keine Linderung durch ihre Kinder, denn beide haben ein
gestörtes Verhältnis zu ihnen. Nach dem Tod von Jack begleiten wir
Olive weiter, lesen, wie sie mit dem Alter zurechtkommt und
begleiten sie ins Seniorenheim.
Olive ist wahrlich keine Sympathieträgerin, sie ist barsch, verletzend
und mischt sich in alles ein. Durch die anschauliche Schilderung
ihres Innenlebens kommt man ihr aber sehr nahe, wird in ihre
Gedankenwelt hineingezogen und stellt dann erstaunt fest, dass
man sie ins Herz geschlossen hat. Es ist zu spüren, dass unter ihrer
ruppigen Art eine empfindsame Seele zu finden ist, die versucht, mit
den Verletzungen des Lebens umzugehen. Mit zunehmendem Alter
gewinnt Olive die Einsicht, das Leben anderer gelassener zu
nehmen.
Der Roman ist leicht erzählt trotz der schwergewichtigen Themen
wie Verlust, Einsamkeit, Alter, Tod und Reue. Diese Leichtigkeit
bekommt der Roman auch dadurch, dass E. Strout das Fach der
Situationskomik meisterhaft beherrscht und man oft herzhaft lachen
muss.
Ein Roman, der mit großem Einfühlungsvermögen und Mitgefühl auf
die Menschen blickt und den Wunsch in einem erzeugt, ähnlich
liebevoll auf seine Mitmenschen zu blicken.
Karin Hartmann
Erschienen am 16.03.2020 im Luchterhand Verlag, 20 €
Willi Achten „Die wir liebten.“
Wer in den 60er Jahren geboren ist,
durchlebt in diesem Buch noch einmal die
Welt der Eltern der Nachkriegsgeneration.
Eine Zeit, in der die Kinder gekleidet und
genährt wurden, aber damit hatte es sich
dann auch schon. Milch wurde gegeben aber
der Honig fehlte. Gefühle hatten am Esstisch
keinen Platz. So wie bei den Brüdern Roman
und Edgar, die Anfang der 70er, 13 und 11
Jahre alt sind und in einer westdeutschen
Provinz leben.
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des
jüngeren, sensiblen Edgar.
Der Vater ist Bäckermeister, die Mutter
betreibt einen Toto- und Lottoladen.
Die Ehe der Eltern geht in die Brüche als der Vater sich in die
Tierärztin verliebt und es kommt zur Scheidung, was in dieser Zeit
noch als undenkbar galt.
„Niemand aus der Familie, das wussten wir, hatte je seine Familie
verlassen. Trennung, Scheidungen gar, beging man in der Stadt,
nicht im Dorf. So schlecht eine Ehe sein mochte, sie hielt, wurde
zumindest nicht aufgelöst. Sie wurde gestützt durch ein Netz von
Normen und Tabus. Eine Ehe war nicht nur ein Bund zwischen zwei
Menschen, sie war ein Pakt zwischen zwei Familien, und sie war
auch eine Abmachung mit allen anderen im Dorf, …“
Für die beiden Brüder beginnt mit der Scheidung, die mit allem Drum
und Dran des damals geltenden Schuldprinzips durchgeführt wird,
eine soziale Abwärtsspirale bis eines Tages das Jugendamt vor der
Tür steht und die beiden in ein Heim steckt, dem „ Gnadenhof“, wo
die Methoden der Nazizeit fortbestehen.
Willi Achten beschreibt mit sehr viel Gefühl die Innenwelten dieser
beiden heranwachsenden Jungen. An manchen Stellen ist das Buch
kaum auszuhalten. Es ist so temporeich erzählt, dass man sich oft
gehetzt fühlt und sich zwingen muss zu verweilen, damit diese
intensiven Bilder, die Willi Achten im Kopf erzeugt, nicht zu schnell
an einem vorbeifliegen.
Dieses Buch wird auf jeden Fall zu den „Besten“ gehören, die ich in
den vergangenen Jahren gelesen habe.
Rita Körner
Das Buch ist im Februar 2020 im Hanser Verlag erschienen und
kostet 22,00 €
David Garnett „Dame zu Fuchs“
Das Buch ist nicht neu. Es wurde bereits
1922 verlegt, allerdings unter anderem Titel.
Der Autor lebte von 1892 bis 1981. Er war
nicht nur Schriftsteller sondern auch
Buchhändler, Verleger und Kritiker. Er
gehörte der legendären Bloomsbury Group
um Virginia Woolf, E.M.Forster und John
M.Keynes an. Diese Menschen versuchten
das verstaubte viktorianische England in der
ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts
intellektuell und künstlerisch aufzumischen.
D.Garnett hatte unzählige Affären und pflegte
einen boheminischen Lebensstil.
Der schmale Roman, eigentlich eher eine
Novelle, handelt von einem jungen Ehepaar, den Tebricks, die sich
glücklich und verliebt ins ländliche Oxfordshire zurückziehen. Wir
schreiben das Jahr 1880 als das Paar einen Spaziergang durch das
oberhalb ihres Anwesens gelegene Wäldchen macht. In der Ferne
sind Signalhörner von Jägern zu hören, Hunde bellen. Mr.R.Trebick
möchte einen Blick auf die Jagdgesellschaft erhaschen, seine Frau
Silvia geborene Fox, findet keinen Gefallen an dieser
Freizeitgestaltung englischer Gentlemen. Richard geht zum
Waldrand. In dem Moment ertönt ein Schrei und als er sich umdreht
ist etwas Unglaubliches geschehen: „Wo eben noch seine Frau
gewesen war, stand, mit leuchtend rotem Fell, ein kleiner Fuchs."
Erst nach geraumer Zeit, in der sie sich fassungslos anstarren,
brechen beide in Tränen aus. Dann steckt Richard seine Silvia unter
die Jacke und bringt sie nach Hause. Die geifernden Hunde
erschießt er, das Personal entlässt er.
Rührend fürsorglich kümmert Richard sich um die ins Tier mutierte
Gattin, die zunächst noch sehr zivilisiert versucht in dem häuslichen
Umfeld zu leben. So hilft ihr der Gatte in ein seidenes
Morgenjäckchen, dass sie nicht nackt herumlaufen muss. Aber bald
siegt die Natur über die Zivilisation. Sie will nicht mehr am Tisch
sitzen, verschlingt die gefangene Taube auf Raubtierart, versucht
aus dem Haus und dem Garten zu fliehen. Richard, der sie
beschützen will, versucht sie einzusperren aber auf Dauer gelingt es
nicht.
.Die Geschichte ist ausschließlich aus der Sicht von Richard erzählt,
so dass ein Blick in die Gedankenwelt von Silvia nicht möglich ist.
Sie ist aber in den Handlungen zu erkennen. Sie handelt, Richard
versucht zu reagieren, aber er ist zum Scheitern verurteilt.
Charmant und leicht wird diese Novelle erzählt. Ohne erhobenen
Zeigefinger und Moral. Und doch steckt viel emanzipatorischer Wille
hinter den Worten.
Anke Jährig
Das Buch ist im btb Verlag erschienen und kostet 9,99 €
Isabel Bogdan „Laufen“
Wie bewältigt man eine schwere
Lebenskrise?Die Ich-Erzählerin, eine
Hamburger Musikerin, entscheidet sich fürs
Laufen. Zunächst kostet sie jeder Kilometer
Überwindung, doch allmählich schafft sie mehr
und mehr Runden im Hammer Park, um am
Ende einmal um die Alster gelaufen zu sein.
„Laufen ist super, so schön stumpf, man muss
gar nicht denken, ich kann sowieso nur über
das Laufen nachdenken und über meinen
Körper und gar nicht über den ganzen
Mist…..Ich laufe mir die Grübelei weg.“
So macht sie sich auf den Weg, die Trauer und die Wut über den
Suizid ihres Lebensgefährten zu verarbeiten, um wieder zurück ins
Leben und in einen normalen Alltag zu finden.
Während ihrer Laufrunden gelingt es ihr, ihre Gedankenwelt zu
sortieren und im unaufhörlichen Selbstgespräch offenzulegen.
Was sich zunächst in Verzweiflung über Einsamkeit äußert
„...die haben doch keine Ahnung, wie hilflos man vor dem Bett steht
und sich fragt, ob man jetzt zwei Decken und Kopfkissen beziehen
soll…., denn wenn man beide bezieht, sieht es so aus , als käme da
noch jemand.“
oder in qualvoller Auseinandersetzung über Schuld und
Schuldgefühle
„…ich muss aus dem Schulddenken herauskommen, es war deine
Entscheidung….. Aber wie soll das gehen?“
wandelt sich allmählich in Wut über gut gemeinte Ratschläge ´
„Was überhaupt nicht hilft, sind diese Sprüche: das Leben geht
weiter und der ganze Quatsch, was soll das denn heißen, natürlich
geht das Leben weiter.“
Mit der Hilfe von Freunden, ihrem Quartett, der Liebe zur Musik und
dem unermüdlichen Laufen kehrt sie nach 2 Jahren zurück in ein
Leben mit Perspektive und zukunftsweisenden Plänen, mit
Gedanken an eine neue Liebe, ans Tanzen und etwas „Schönem
zum Anziehen“.
„Wie soll es weitergehen? Wie wohl? Vorwärts, nicht mehr im Kreis.“
In schnellem Tempo---(laufend)---dabei wahrhaftig, warmherzig und
berührend, reich an Metaphern und feinem Humor schreibt Isabel
Bogdan über Leben und Tod, Trauer, Verlust und das Leben danach.
Ein Buch, das trotz der Schwere der Thematik viele tröstliche und
hoffnungsvolle Momente verspricht.
Brigitte Seng
Das Buch ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 18,00
€