„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ Roman von Julia Schoch
„Im Grunde ist es ganz einfach: Ich verlasse dich.
Drei Wörter, die jeder Mensch begreift. Es
genügen drei Wörter, und alles ist getan. Man
muss sie bloß aussprechen. Ich bin erstaunt,
dass es so einfach ist. Und noch etwas erstaunt
mich. Der Satz ist genau so kurz wie der, den ich
am Anfang der Geschichte gesagt habe. Am
Anfang habe ich zur dir gesagt. Ich liebe dich.“
So beginnt der neue Roman von Julia Schoch und zwischen diesen beiden
Sätzen liegt das ganze 31 Jahre lange gemeinsame Leben, das jetzt so scheint
es, an sein Ende gekommen ist. Julia Schoch dröselt in diesem 2. Teil ihrer
Romantrilogie über ein Frauenleben, diese Liebe bis in alle Einzelheiten auf
und erspürt die Bruchstellen der Entfremdung und auch der Trauer darüber.
Wir folgen ihren Gedanken und alles kommt einem so bekannt vor. Sie
schreibt mutige und wahre Sätze wie z.B. „Nach langer Zweisamkeit will man
wieder näher bei sich selbst sein. Näher bei sich heißt: weiter weg vom
anderen. Wie es aussieht, ist die Emanzipation der Tod der Liebe.“
Für Elke Heidenreich (SZ vom 16.2 ) ist es das wahrste Buch über Liebe und
Scheitern und unerträgliche Erwartungen, welches sie seit langem gelesen
hat. Dennis Scheck nannte diesen Roman eine „atemberaubende
Langzeitbeobachtung und eine beglückend zu lesende éducation
sentimentale.“
Für mich ist Julia Schoch eine außergewöhnlich scharfe und analytische
Beobachterin zwischenmenschlicher Erfahrungswelten und was sie in meinen
Augen besonders hervorhebt, ist ihre Wortschöpfungskunst, mit der sie es
schafft diffuse Gefühle zu beschreiben. Wenn sie z.B.an einer Stelle von
„Zukunftsverlassenheit„ scheibt, wissen wir sofort was sie damit meint. Was
wir während des Lesens nicht wissen ist, ob die drei Wörter zu Beginn des
Romans am Ende ausgesprochen werden; das verrate ich Ihnen hier nicht.
dtv 2023- 22 €
Ich freue mich sehr, dass Julia Schoch zugesagt hat am 8.Mai
hier in Buxtehude zu lesen.
Die Veranstaltung findet wie immer auf DECK 2 statt. Es beginnt
um 19 Uhr. Der Eintritt beträgt 15 €. Um Anmeldung wird
gebeten.
„Nebenan“ von Kristine Bilkau
Die Autorin Kristine Bilkau ist gebürtige Hamburgerin und
hatte bereits mit ihren letzten Romanen „Die Glücklichen“
und eine „Liebe in Gedanken“ großen Erfolg. In ihrem
neuen Roman „Nebenan“ beweist sie erneut ihre
Meisterschaft in dem Aufspüren und der Darstellung von
feinsten Rissen in unseren Wahrnehmungen und
ambivalenten zwischenmenschlichen Gefühlen. Der Ort des
Romans ist ein absterbendes kleines Dorf am Nord-Ostsee-
Kanal, zwischen Natur, Kreisstadt und Industrie. Mitten aus
dem Alltag heraus verschwindet kurz vor Weihnachten eine
Familie spurlos. Das verlassene Haus wird zum
gedanklichen Zentrum der Nachbarn: Julia, Ende dreißig,
die sich vergeblich ein Kind wünscht, die mit ihrem Freund
erst vor kurzem aus der Großstadt hergezogen ist und einen
kleinen Keramikladen mit Onlineshop betreibt. Astrid, Anfang sechzig, die seit
Jahrzehnten eine Praxis in der nahen Kreisstadt führt und sich um die alt
gewordene Tante sorgt. Und dann ist da das mysteriöse Kind, das im Garten
der verschwundenen Familie auftaucht. Sie alle kreisen wie Fremde
umeinander, scheinbar unbemerkt von den Nächsten, sie wollen
Verbundenheit und ziehen sich doch ins Private zurück. Und sie alle haben
Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste. Ihre Wege kreuzen sich, ihre
Geschichten verbinden sich miteinander, denn sie suchen, wonach wir alle uns
sehnen: Geborgenheit, Zugehörigkeit und Vertrautheit. »Nebenan« ist eine
feinsinnige Geschichte über das langsame Verschwinden natürlicher
Beziehungen und die Entstehung einer sich entfremdeten Gesellschaft.
2021 wurde »Nebenan« im Rahmen der Vergabe der Hamburger
Literaturpreise als bester Roman ausgezeichnet. Das Buch erscheint am
8.März 2022 im Luchterhand Verlag und kostet 22 €
„Die Kinder sind Könige“ von Delphine de Vigan
Delphine de Vigan ist eine französische Autorin, die mit
ihren Werken beharrlich versucht hinter die Fassade einer
Welt zu blicken, die auf reeller und symbolischer Gewalt
beruht. Bereits in ihren vorherigen Romanen hat sie sich
mit unterschied-lichen Ausformungen der Gewalt befasst.
Die Bücher von de Vigan lösen während des Lesens oft
etwas Unruhiges aus. Der Schreibstil ist dicht, kurz und
prägnant. Sie versteht es dem Lesenden mitunter gekonnt
in die Magengrube zu schlagen.
In ihrem neuen Roman, der im Jahre 2030 angesiedelt ist,
setzt sie sich mit einer Form der Gewalt auseinander, die sie
darin sieht, wenn Eltern der sog. „BigBrother-Generation“,
ihre eigenen Kinder auf YouTube oder ähnlichen Kanälen 24
Stunden der Öffentlichkeit preisgeben. Zum einen um damit
Geld/ Millionen zu verdienen, indem die Kinder dazu benutzt werden
Konsumartikel zu platzieren, zum andern, um das eigene Egobedürfnis und die
Sehnsucht nach „Klicks und Likes„ zu befriedigen. Es ist eine juristische
Grauzone, die die Autorin hier beleuchtet, denn das Filmen der Kinder durch
ihre Eltern fällt juristisch weder in die Rubrik „Kinderarbeit“ wie z.B. in der
Filmindustrie, noch stellt es auf den ersten Blick eine Verletzung des Kindes-
wohls dar. „Denn die Kinder haben doch so viel Spaß dabei! Und überhaupt; es
ist privat!“
Der Plot des Romans ist wie ein Krimi aufgebaut. Durch die Entführung eines
kleinen Mädchens zeigt de Vigan geschickt das Ausmaß dieser Übergriffigkeit
bis hin zur psychischen zerstörerischen Gewalt. Ein spannendes und sehr
nachdenklich machendes Buch.
Der Roman erscheint am 14.3.2022 im Dumont Verlag und kostet 23 €
“Judith und Hamnet”, von Maggie O`Farell
Womans Price for Fiction
Schon zu Beginn des neuen Jahres ist dieser berührende
Roman ein absolutes Highlight. Es ist die historisch
detailreiche Geschichte aus dem frühen Leben von William
Shakespeare, erzählt aus der Perspektive seiner älteren und
feinsinnigen Frau Agnes. Wir erleben Shakespeare, als Sohn
eines jähzornigen und betrügerischen Handschuhmachers,
seine Verliebtheit, seine ersten Ehejahre, die Geburten der
Kinder und den Beginn seiner Karriere als Dramatiker in
London, vor allem aber nehmen wir beim Lesen Anteil an
der unendlichen Trauer von Eltern über den Verlust eines
Kindes. Hamnet, der Zwillingsbruder von Judith, verstirbt
an der Pest. Während Agnes daran zu zerbrechen droht,
lässt Shakespeare ihn im Hamlet weiterleben. Aus
Geschichte wird Literatur. Es gibt in diesem Buch so viele
berührende Stellen, dass es ratsam ist ein Taschentuch in Reichweite zu
haben. Der Literaturpreis für diesen Roman ist hochverdient.
Das Buch ist erschienen 2020 im Piper Verlag und kostet 22 €
„Annette, ein Heldinnen-Epos“ von Anne Weber
Deutscher Buchpreis 2020
Berufen zum Widerstand, berufen dazu Minderheiten,
Hilflosen und Ausgegrenzten zu helfen, so ist das Leben der
Ärztin und Mutter Anne Beaumanoir. Anne Weber hat ihre
Geschichte in sprachlicher und gedanklicher Dichte so
hervorragend wiedergegeben, dass man sich ihrem Sog
nicht entziehen kann. Dabei legt die Autorin zuweilen ein
frechen und lakonischen Ton an den Tag, wenn sie uns als
Leser über französische Geschichte so nebenbei „belehren“
will . Dies mag vielleicht nicht jedem gefallen, mich hat es
nicht gestört -eher im Gegenteil- ich fühlte mich vis-á-vis
mit Anne Weber. Obwohl der Roman in wunderschöner
Prosa geschrieben ist, so ist der Text in seiner äußeren
Form gestaltet wie ein Langgedicht. Wozu diese Form? Wohl
zum einen, weil nach der Vorstellung der Autorin die
Hauptfigur einer Heldinnendichtung würdig ist, aber zum anderen macht es
etwas mit uns während wir lesen. Unser Auge fliegt nur so über die Zeilen und
das Tempo erhöht sich.
Der Text, der ohnehin schon sehr verdichtet ist nimmt noch einmal zusätzlich
Fahrt auf. Anne Weber ist nicht die Erste, die in dieser Art erzählt. Bereits
Sarah Crossan und David Foenkinos haben damit schon sehr erfolgreich ihre
Romane oder auch Versnovellen verfasst. Wer diese Form aber als störend
empfindet, dem sei das Hörbuch sehr zu empfehlen.
Das Buch ist erschienen 2020 bei Matthes & Seitz und kostet 22 €;
Das Hörbuch ist eingelesen mit der wunderbaren Stimme von Christina
Puciata, 5 CDs, Audioverlag 22 €
„Schnee in Amsterdam“ von Bernard MacLaverty
Um den nordirischen Autor MacLaverty war es sehr lange
still, umso mehr habe ich mich gefreut als 2018 endlich
wieder ein Buch von ihm erschien und meine Erwartungen
wurden nicht enttäuscht. Ein älteres irisches Ehepaar reist
für ein Wochenende nach Amsterdam. Schon nach wenigen
Seiten ahnen wir als Leser, dass diese Ehe voller Narben ist
und vor einem Abgrund steht. Mit messerscharfer
Beobachtung und psychologischem Gespür schaut der Autor
auf das Leben dieser zwei Menschen und spürt die
Situationen auf, in denen das gemeinsam Erlebte, sie auf
unterschiedliche Wege führte. MacLaverty hat ein
schlichtes, unsentimentales und lebenskluges Buch
geschrieben in dem irgendwann - zum Glück - auch
Schnee in Amsterdam fällt.
Schnee in Amsterdam erschienen 2018 im Beck Verlag 22 €; als Taschenbuch
bei dtv
erschienen 2020 für 11,90 €
„Wolgakinder“ von Gusel Jachina
Meine Mutter ist in Tiblissi (Tiflis/Georgien) als Kind von
Wolgadeutschen geboren. Um 1900 gab es ca. 600.000
deutsche Siedler, die auf einem Gebiet so groß wie Belgien
an der Wolga entlang lebten. Meine Mutter ist im Alter von
sechs Jahren von dort geflüchtet und sie und die Großeltern
hatten viele Erinnerungen im Gepäck. Für mich gab es also
Grund genug dieses Buch in die Hand zu nehmen. Was für
ein Glück! Mit märchenhafter Fabulierlust, die mich zum Teil
an Kafka, Murakami und auch Haratischwilli erinnert, habe
ich die Geschichte des Dorfschullehrers Bach gelesen, der
an der Wolga in einem Dorf namens Gnadental lebt und sich
auf höchst verwunderliche und sehr seltsame Art in seine
Schülerin Klara Grimm verliebt. Jachina erzählt von einer
untergegangenen Welt – der Wolgadeutschen und ihrer
unabhängigen sowjetischen Republik. Der Roman umfasst eine Zeitspanne
von 1915 bis 1945 anhand eines berührenden menschlichen Schicksals. Der
Roman hat für mich auch ein paar Schwächen gehabt, so verändert Jachina
bei bestimmten Kapiteln, wo politische Ereignisse im Vordergrund stehen, den
Schreibstil
und man holpert beim Lesen etwas hinterher. Aber insgesamt gesehen hat das
für mich nicht die Qualität des Buches gemindert. Großes Kopfkino an der
Wolga !
Das Buch ist 2019 im Aufbau Verlag erschienen und kostet 24,00 €
„Offene See“ von Benjamin Myers
Wer „Ein Monat auf dem Land“ von Carr oder „Stoner“ von
Williams gerne gelesen hat, dem wird auch dieses Buch
gefallen. Rückblickend erzählt wird die Geschichte einer
ungewöhnlichen Freundschaft, unmittelbar nach dem
zweiten Weltkrieg, zwischen dem 16jährigen
Bergwerkssohn Robert und Dulcie einer sehr viel älteren
Frau. Bevor Robert, wie schon sein Vater in den
Grubenschacht einfahren muss, will er noch auf
Wanderschaft gehen. Er will Nordengland durchstreifen bis
hin zum offenen Meer – seinem Sehnsuchtsort. Auf der
Wanderung trifft er Dulcie vor ihrem kleinen Cottage. Dulcie
ist unverheiratet, selbstbewusst, ohne Blatt vor dem Mund,
klug, belesen, kultiviert und verfügt über ein Geheimnis.
Während ihres Kennenlernens weckt sie in dem jungen
sensiblen Robert, Horizonte, Möglichkeiten und Lebensziele, die sich dieser
schon bedingt durch seine Herkunft, niemals hätte zu eigen machen können.
Aber auch Robert bringt mit seinen Gedanken und seiner Art, Wärme in
Dulcies Leben. Der Roman ist eine Geschichte über die Kraft der Sprache, die
Liebe zur Literatur und der rauhen Landschaft Nordenglands.
Es gehört für mich zu den schönen „stillen“ Büchern.
Das Buch ist erschienen 2020 im DuMont Verlag und kostet 20,00 €
Zum Schluss möchte ich Ihnen zwei außergewöhnliche Bücher vorstellen.
Außergewöhnlich, weil mich diese Romane sowohl abgestoßen als auch
unerklärlich
angezogen haben.
„Das wirkliche Leben“ von Adeline Dieudonné
Dieser Roman ist das Debut der belgischen Autorin. Er
wurde mit 14 Literaturpreisen
überhäuft und ist mittlerweile in 20 Sprachen übersetzt
worden.
Im Mai 2020 hat Matthias Brand dieses Buch im
literarischen Quartett vorgestellt und
hochgelobt. Er hat den Roman als „spannende
Horrorgeschichte“ bezeichnet, Thea Dorn sah darin ein
grausames Märchen und hielt es für die beste
Neuerscheinung des Jahres.
Worum geht es? Ein junges Mädchen versucht voller
Hingabe ein Unfalltrauma, welches ihr kleiner Bruder
erlitten hat, zu heilen. Doch wie soll sie sein Lachen wieder
herbeizaubern, wenn ein Gewaltmonster von Vater zuhause
am Tisch sitzt und das Gesicht der Mutter in das Puree schlägt, bis der Teller
in Scherben bricht. Wie kann sie es schaffen, wenn sie fürchten muss, dass
auch der Bruder immer mehr Gefallen an der Gewalt bekommt? Auf einer
zweiten Ebene ist dieser Roman auch ein Entwicklungsroman eines
bildungshungrigen Teenagers, der die Zeit zurückdrehen möchte und sich in
Liebesdingen völlig verstrickt hat.
Es ist ein düsterer Roman, mit einer brachial direkten Sprache, der sich aber
spannend wie ein Krimi liest und zwischendurch gespickt ist mit eiskaltem
Humor und fantastischen Sätzen:
„ Es heißt, dass die Stille, die auf Mozart folgt, immer noch Mozart ist.“
Das Buch ist 2020 bei dtv erschienen und kostet 18,00 €
„Was man sät“ von Marieke Rijneveld
International Booker Price 2019
Rijneveld hat mit gerade einmal 26 Jahren einen
unglaublich harten, kaum zu ertragenen Roman
geschrieben.
Kurz vor Weihnachten bemerkt die 10jährige Jas, dass der
Vater ihr Kaninchen mästet. Sie ist sich sicher, dass es zu
Weihnachten geschlachtet wird. Damit das nicht passiert
betet Jas zu Gott, er möge ihren älteren Bruder anstelle des
Kaninchens nehmen. Am selben Tag bricht ihr Bruder beim
Schlittschuhlaufen ins Eis ein und ertrinkt. Die Familie weiß:
Das war eine Strafe Gottes, und alle Familienmitglieder
glauben, selbst schuld an der Tragödie zu sein. Jas flieht mit
ihrem Bruder Obbe und ihrer kleinen Schwester Hanna in
ein Niemandsland voller
okkulter Spiele, in denen sie versuchen den Tod zu
verstehen. Es sind bitterernste und gefährliche „wie-fühlt-sich-tot-an-spiele“.
Aber diese Familie wird nicht nur durch den Verlust des Ältesten gestraft.
Hiobsches Ausmaß bekommt die Tragödie, als auch noch die Maul-und
Klauenseuche auf dem Hof ausbricht und alles Vieh getötet wird. Die Kinder
fürchten nun nichts mehr, als dass die Eltern eines Tages auf dem Dachboden
am Balken hängen. Rijneveld hat eine emotional schwer verdauliche
Geschichte geschrieben mit archaischen Zügen, Menschen, die in einer
erdrückenden Religiosität leben mit seelisch verwundeten Kindern. Kein Buch
welches aufbaut aber es ist absolut lohnend es zu lesen. Ich halte es, wegen
seiner literarischen Außergewöhnlichkeit, auch für eine Besprechung in einem
Lesekreis, für sehr geeignet.
Das Buch ist 2019 bei Suhrkamp erschienen und kostet 22,00 €
„Das armenische Tor“ von Wilfried Eggers
Peter Schlüter ist endlich wieder da!
Sieben Jahre hat der Jurist und Autor Wilfried Eggers an
seinem neuen und gerade politisch sehr aktuellen Krimi
gearbeitet.
Hauptfigur in Eggers Romanen ist der ermittelnde Anwalt
Peter Schlüter, der diesmal konfrontiert wird mit dem
historisch tief verwurzelten Konflikt zwischen Armenien und
Aserbaidschan um das umkämpfte Gebiet Bergkarabach
sowie der Völkermord der Türken von 1915 an den
Armeniern.
Wie schon im vorherigen Krimi „Paragraf 301“, wird
Schlüter genötigt über seinen ängstlichen Schatten zu
springen und ins gefährliche Morgenland zu reisen, um zu
ermitteln. Eigentlich genießt er sein geregeltes und ruhiges Dasein in seiner
Anwaltspraxis in Hemmstedt. Er liebt seine Familie, die nordischen Sprachen
und steckt mit seinen Gummistiefeln tief und fest im Hollenflether Moor.
Schlüter ist kein Mann der großen Töne. Eher so nebenbei kommen seine
kritischen und scharfzüngigen Beobachtungen politischer und menschlicher
Missstände zu Wort. Ihm ist Wichtigtuerei, Verlogenheit und Fanatismus
verhasst, so dass die anwaltliche Robe nicht nur Ausdruck seines
Broterwerbes ist.
In seinem neuen Fall ruft ein Unbekannter in seiner Kanzlei an und bittet ihn
um Hilfe und noch bevor Schlüter einen Termin vereinbaren kann wird er am
Telefon Zeuge, wie der Mann ermordet wird. In der Tasche des unbekannten
Toten entdeckt man später einen Zettel mit armenischen Namen und
türkischen Orten und eine Quittung eines Cafés im Iran. Und wie es der Zufall
will, bekommt Schlüter noch einen weiteren „armenischen“ Fall auf den Tisch.
Nach einer Veranstaltung türkischer Völkermordleugner wird die Armenierin
Anahid Bedrosian vergewaltigt und bittet Schlüter um Hilfe. Schlüter ahnt den
hundertjährigen Schatten, den der Völkermord an den Armeniern wirft. Mit
einer gehörigen Portion Angst im Gepäck und dem Segen seiner Frau, reist er
nach Täbris in den Iran, begleitet von Anahid, um das Geheimnis des
rätselhaften Toten zu lüften.
Mittlerweile hat Wilfried Eggers fünf Romane geschrieben, die ich alle sehr
gerne gelesen habe. Mit dem Krimi „Paragraf 301“ wurde er für den
österreichischen Friedrich-Glauser-Preis nominiert. Eggers Krimis
kennzeichnen sich durch einen gut recherchierten historischen Kontext. Seine
Figuren sind zuweilen bissig, mit gutem Humor und einer kleinen Prise
Weltklugheit ausgestattet. Wilfried Eggers kommt hier aus der Gegend. Er
arbeitet als Anwalt und Notar und wer sich in und um Stade ein wenig
auskennt, wird die eine oder andere Anspielung schmunzelnd
wiedererkennen.
Wilfried Eggers „Das armenische Tor“ erschienen 2020 im Grafit Verlag ,14 €
Andreas Izquierdo „Schatten der Welt“
Andreas Izquierdo lebt in Köln und hat 2007 mit dem Buch „Der König
von Albanien“ den Sir -Walter- Scott- Preis für den besten historischen
Roman erhalten. In dem Roman „Schatten der Welt“ entführt er den
Leser in die Zeit von 1910 bis 1918 .
Die Geschichte beginnt in Thorn in Westpreußen. Der schüchterne
Carl, der draufgängerische Artur und die freche Isi sind gerade 14
Jahre alt und frohen Mutes, dass der Ernst des Lebens noch ein wenig
auf sich warten lässt. Nicht einmal die Nachricht, dass ein Komet
namens »Halley« die Menschheit zu vernichten droht, kann die drei
Jugendlichen schockieren. Im Gegenteil, ungerührt verkaufen sie Pillen
gegen den Weltuntergang, während Halley still vorbeizieht. Inmitten
einer Gesellschaft, die von Adligen, Großgrundbesitzern und dem
Militär bestimmt wird, wächst dieses unzertrennliche Dreigestirn auf.
Nach der Schule beginnt Carl eine Ausbildung zum Fotografen, Artur
gründet noch vor der Volljährigkeit ein Speditionsunternehmen,
während Isi darum kämpft, Abitur machen zu dürfen. Als 1914 die große Weltpolitik über sie
hineinbricht, reißt es die Freunde auseinander. Artur und Carl werden eingezogen, fernab der
Heimat werden die beiden Teil eines Kriegs, der jede Vorstellungskraft sprengt. Derweil ficht
Isi zuhause in Thorn nicht minder schwere Kämpfe aus. Sie stemmt sich gegen die
Ausbeutung des hiesigen Großgrundbesitzers, sie wehrt sich gegen ihren grausamen und
karrieresüchtigen Vater und sie wird in Festungshaft genommen. 1918 ist der Krieg endlich
vorbei. Nichts ist geblieben, wie es einmal für die drei Freunde war und doch gibt es
Hoffnung, ein Neuanfang scheint möglich.
Mitreißend mit viel Gefühl und liebevollen Blick für seine Figuren und historischen Kontext,
erzählt Andreas Izquierdo die Geschichte dreier Jugendlicher, die in den Wirren des frühen
20. Jahrhunderts
ihren Weg suchen. Ich habe dieses Buch bis zur letzten Seite verschlungen und ich würde
mir wünschen, dass es einmal verfilmt wird. Für mich war es pures „Kopfkino“.
Schatten der Welt ist im Juli 2020 im Aufbau Verlag erschienen und kostet 16,00 €
Rita Körner
Tom Saller „Ein neues Blau“
Wer sich noch an „Wenn Martha tanzt“ von Tom Saller erinnert, eines
unserer Empfehlungen in der Buchhandlung, wird sich auf dieses neue
Buch freuen können. Beide Bücher spielen auf verschiedenen
Zeitebenen. Erneut beschreibt Saller das eben einer starken und
unabhängigen Frau auf der Suche nach sich selbst. Bei „Martha“
standen die Zeit und die Umstände der Bauhaus-Ära im Mittelpunkt, in
diesem neuen Roman die Königliche Porzellan-Manufaktur in Berlin
sowie die
japanische Teekultur.
Die 18jährige Anja bekommt von ihrem Lehrer den Auftrag, sich bei Lili
Kuhn als Gesellschafterin vorzustellen. Die alte Dame ist zunächst
überrascht, lässt sich jedoch auf die Besuche am Nachmittag ein und
findet bald Gefallen an den Treffen. Langsam fasst Lili Vertrauen,
erzählt aus ihrem Leben und bringt Anja das Töpfern bei. Ruhig,
feinfühlig und dennoch in sehr eindringlichen Bildern entfaltet sich
Lilis Leben Schicht um Schicht in den Jahren zwischen 1919 und 1932. Als junges Mädchen
lebte sie mit ihrem jüdischen Vater (die christliche Mutter ist verstorben) und dem
Halbjapaner/-chinesen Takeshi in Berlin. Lilis Vater betrieb einen Teehandel und hatte in
Japan Takeshi kennengelernt. Dieser war Lilis beständiger Freund und Beschützer und
führte sie in die Geheimnisse der Teekultur sowie der Kalligrafie ein. Lilli lernte zufällig den
Direktor der Königlichen Porzellan-Manufaktur, Freiherr von Pechmann, kennen und
entdeckte dadurch ihre Leidenschaft für die Porzellanmalerei. Sie wurde Schülerin der
Bauhaus Absolventin in Keramik- und Porzellangestaltung, Marguerite Friedlaender. Nach
dem Umfalltod ihres Vaters, an dem sie sich selbst die Schuld gab, brach sie jedoch die
Ausbildung ab und verfiel in eine schwere Depressionen. Erst durch den geduldigen
jüdischen Psychotherapeuten Adam, den Lili später heiratet, gelingt ihr die Genesung. Die
Königliche Porzellan - Manufaktur in Berlin, gegründet von Friedrich dem Zweiten, dessen
Schöngeist für die Porzellanherstellung und die “Geburt” des Farbton “bleu mourant” ,
verantwortlich ist, zieht sich wie ein “blauer Faden” durch die berührende Erzählung und
Lilis Leben. Geschickt verwebt Tom Saller geschichtliche Fakten mit Fiktion.
Das Buch ist im August 2019 im List Verlag erschienen und kostet 20,- €.
Konstanze Weber-Feldmann
Ann Petry „The Street“
Liebe Leserinnen und Leser,
als im März alle Läden schließen mussten und ich im dunklen Laden
saß um meine kleine Abholstation zu betreuen, ist mir die Zeit dank
eines Hörbuches nie langweilig gewesen.
Ganze 11 ½ Stunden habe ich fast süchtig der Stimme von Bettina
Hoppe gelauscht, die den Roman „The Street“ eingelesen hat. „The
Street“ ist das sehr erfolgreiche Debut der Afroamerikanerin Ann Petry
aus dem Jahre 1946.
Es ist millionenhaft verkauft worden und im Frühjahr 2020 wurde dieser
Klassiker vom Verlag Nagel & Kimche neu aufgelegt. Der Roman erzählt
die Geschichte von Lutie Johnson, einer farbigen alleinerziehenden
Mutter. Lutie ist klug. Sie besitzt einen Schulabschluss, ist verheiratet
und hat einen kleinen Sohn. Von Anfang an ist ihre Familie von
Geldsorgen geplagt. Im Gegensatz zu ihrem arbeitslosen Ehemann,
findet Lutie weit entfernt eine Arbeit als Hausmädchen in einer reichen
weißen Familie. Große Ziele, Bildung, Erfolg und Geld sind das Credo
der reichen Oberschicht und Lutie beschließt, dass dies auch für ihr Leben gelten soll. Um
die Reisekosten der Heimfahrten zu sparen, fährt Lutie nur noch selten nach Hause.
Manchmal vergehen mehrere Wochen ehe sie ihren Mann und ihren Sohn Bupp sieht, was
am Ende dazu führt, dass die Ehe in die Brüche geht.
Lutie ist mit dem Kind auf sich allein gestellt. Zunächst kann sie noch bei ihrem kriminellen
und alkoholabhängigen Vater unterkommen, doch sie will weg. Raus aus dem Elend der
Farbigen, der mangelnden Bildung und den schlechten Lebensverhältnissen. Wie die
„Weißen“ will sie für sich und ihren Sohn den amerikanischen Traum vom Schmied des
eigenen Glückes nicht aufgeben. So bezieht sie in Manhatten in der 116th Straße eine
schäbige Dachgeschosswohnung.
Von diesem Schauplatz aus, verfolgen wir, wie dieser amerikanische Traum eben nicht für
Farbige gilt. Sich zu bemühen, fleißig zu sein, sich zu bilden führt nicht zum Ziel. Die
gesellschaftlichen Gegebenheiten, Rassismus, Sexismus und männliche Gewalt sind wie
eine Betonwand gegen die Lutie voller Wut und Verzweiflung ankämpft. Eingebettet in ihre
eigene Geschichte werden die Lebensgeschichten der Bewohner in der 116th Straße erzählt.
Einer Straße, die zum Symbol von Ausweglosigkeit und Zerstörung wird. Schon zu Beginn
des Romans lässt uns die Autorin ahnen, dass sich hier das Glück nicht finden lässt.
„Ein kalter Novemberwind jagte durch die 116th Street. Er rüttelte an Mülltonnendeckeln,
saugte Rollos aus halboffenen Fenstern und klatschte sie von außen gegen die Scheiben,
und er vertrieb zwischen Seventh und Eighth Avenue fast alle von der Straße, bis auf ein
paar gehetzte Passanten, die versuchten, dem wilden Ansturm vornübergebeugt die
kleinstmögliche Angriffsfläche zu bieten.“
Bettina Hoppe als Sprecherin dieses Hörbuches hat hier eine wahre „Meisterleseleistung“
erbracht. Ihre Stimme ist selten weich, sie gibt der Lutie das Kämpferische, das wütend
Aufbegehrende, dabei immer bemüht rechtschaffend zu bleiben und das Richtige für sich
und ihren Sohn zu tun. Wut, Hoffnung und Verzweiflung – Bettina Hoppe findet immer den
richtigen Ton.
Zur Person von Ann Petry möchte ich noch erwähnen, dass sie selbst als Farbige sehr
privilegiert in Connecticut aufgewachsen ist. Sie hat Pharmazie studiert und entstammte
einer wohlhabenden Apothekerfamilie. Erst als sie 1938 nach New York zieht erfährt sie
Armut, Gewalt, Ausbeutung und Rassismus gegenüber der schwarzen Bevölkerung.
„The Street“ ist im Februar 2020 neu erschienen und kostet 24,- €.
Das Hörbuch ist als MP 3 für 22,- € erhältlich.
Judith W. Taschler „Das Geburtstagsfest“
Judith Taschler, die vor einigen Jahren bereits mit „Die
Deutschlehrerin“ -im Übrigen ebenfalls ein Lesetipp- einen Bestseller
landete, befasst sich in diesem aktuellen
Buch mit den Geschehnissen zur Zeit der Roten Khmer in Kambodscha
und verknüpft hier ein grausames Kapitel der Zeitgeschichte sehr
geschickt mit der Gegenwart.
Der zwölfjhrige Sohn des aus Kambodscha stammenden
Hauptprotagonisten Kim Mey hat sich zum bevorstehenden 50.
Geburtstag seines Vaters eine besondere Überraschung ausgedacht: er
findet die Adresse der ehemaligen Leidensgenossin des Vaters heraus
und sendet eine Mail an Tevi mit der Bitte, als Überraschungsgast zur
Geburtstagsfeier seines Vaters zu erscheinen. Er erhofft sich, mehr aus
der Vergangenheit seines Vaters zu erfahren. Er weiß nur, was
besonders seine Mutter und Großmutter berichtet haben: dass sein
Vater damals auf der Flucht von Kambodscha nach Thailand das kranke Mädchen Tevi durch
den Dschungel getragen hat und diese damit gerettet hat. Von dort aus sind sie dann
gemeinsam nach Österreich geflohen, wurden dort von einer Familie aufgenommen und
lebten dann gemeinsam wie Bruder und Schwester dort, bis dann plötzlich und unerwartet
der Kontakt abbrach. Warum?
Leider ist Kim alles andere als begeistert von der Überraschung: er ist Architekt, hat eine
Frau und drei Kinder und hat seit seiner Flucht 1979 stets versucht, seine
Vergangenheit hinter sich zu lassen. Er befürchtet nun, dass seine Zeit bei den Roten Khmer
und die wahren Begleitumstände jener dramatischen Flucht ans Licht
kommen und alte Wunden wieder aufbrechen. Durch das Erscheinen von Tevi wird Kim völlig
aus der Bahn geworfen. Im Gegensatz zu Kim erzählt Tevi, die als Fotomodell und UNO-
Botschafterin arbeitet, stets von ihrer Vergangenheit, denn ihre Familie wurde durch das
Regime gerettet und sie selbst überlebte nur durch Zufall.
Die Geschichte spielt auf mehreren Zeitebenen: die Siebzigerjahre in Kambodscha, die
Achtziger und Neunziger in Österreich und Frankreich und in der heutigen Zeit in Österreich.
Wie Puzzleteile fügen sich die Erinnerungsstücke zusammen und rekonstruieren eine
Chronik der Ereignisse seit 1970, in der die Biografien aller Beteiligten zusammenlaufen,
langjährige Lügen und Missverständnisse aufgedeckt werden und das schreckliche Ende
einer großen Liebe endlich abschließend verarbeitet wird.
Konstanze Weber-Feldmann
„Das Geburtstagsfest“ ist 2019 bei Droemer Knaur erschienen und kostet 22 €
John Ironmonger „Der Wal und das Ende der Welt“
Wir schreiben das Jahr 2020 und erleben zur Zeit eine weltweite
Pandemie, die uns keine/r je so vorausgesagt hat. Es war und ist uns
immer noch unverständlich, wie es dazu kommen konnte. Wir stehen
fassungslos vor dem, was jetzt zählt und sehen, dass unsere Welt nie
mehr so sein wird, wie wir sie noch vor wenigen Wochen erlebt haben.
In dem Buch von John Ironmonger, „Der Wal und das Ende der Welt“,
das vor einem Jahr bereits erschienen ist, erleben die Figuren dieser
Geschichte das, was auch wir zur Zeit erleben: in rasantem Tempo
verändert sich das gewohnte Alltagsleben von Grund auf. Wie reagieren
die Menschen in dieser Extremsituation? Ironmongers These lautet:
wenn die Welt untergeht, dann rücken die Menschen zusammen.
Es geht um ein kleines Dorf, eine Epidemie und eine globale Krise.
Die Geschichte spielt in England, genauer in St. Piran, einem kleinen
Fischerdörfchen in Cornwall an der englischen Südküste. Hier kennt
jeder jeden, alles geht geruhsam seinen Gang. Eines Tages wird ein junger Mann vom Meer
an den Strand angespült. Die Dorfgemeinschaft, bestehend aus 307 Einwohnern, kümmert
sich liebevoll um den „Gestrandeten“. John Ironmonger hat lauter
liebenswerte, leicht schrullige Charaktere erfunden. Die Landschaft und die skurrilen Figuren
erinnern zwar an Rosamunde Pilcher, doch bietet uns Ironmonger deutlich mehr als deren
ländliche Herzschmerz-Idylle. Keiner der Dorfbewohner ahnt, dass es sich bei dem Mann um
einen Banker handelt, der aus London geflohen ist, nachdem er feststellte, dass er offenbar
maßgeblich mitverantwortlich für den Zusammenbruch seiner Bank ist. Kurz nachdem der
junge Mann am Rande des kleinen Fischerdorfes aufgefunden wurde, strandet an der
gleichen Stelle ein Pottwal. Der Fremde, namens Joe, und die Dorfbewohner müssen
beweisen, was Gemeinsamkeit und individueller Verzicht tatsächlich bewirken kann. Der
Beweis einer echten Gemeinschaft steht an. Unter der Leitung von Joe schafft es das Dorf,
den Wal zurück ins Wasser zu befördern. Joe ist der Held und die Herzen der Dorfbewohner
fliegen ihm zu.
Doch nun hat das von Joe entwickelte Softwaresystem einen globalen Kollaps
prognostiziert. Dieser Zusammenbruch würde, so die Prognose, ganz einfach beginnen,
indem zuerst ein Teil einer Lieferkette ausfällt und bald darauf weltweit Nachschubwege und
Systeme zusammenbrechen. Ein Grippevirus, das sich rasant ausbreitet, verursacht und
beschleunigt Chaos und totale Anarchie, schlimmer als zu Zeiten der spanischen Grippe von
1918.
Angesichts dieser Prognose entschließt Joe sich zu einer Rettungsaktion für das Dorf. Er
verwendet seine gesamten Ersparnisse, um dafür riesige Mengen an haltbaren
Lebensmitteln zu kaufen. Im Glockenturm der Kirche wird alles eingelagert. Denn - so lautet
die immer wiederkehrenden These: jede Großstadt ist nur „drei volle Mahlzeiten“ von der
Anarchie entfernt.
Und die Grippe kommt. Gewaltig. Wie werden die Dorfbewohner reagieren? Wird es ein
Hauen und Stechen geben oder können die Menschen eine menschliche Seite offenbaren,
der existenziellen Krise mit Humanität begegnen?
Der Autor verzichtet auf eine überwiegend erzählende Beschreibung der Ereignisse.
Stattdessen nehmen wir teil an den Gesprächen seiner Romanfiguren und sind auf diese
Weise als Leser eng einbezogen in den dramatischen Ablauf des Geschehens.
Am Ende des Romans stellt sich heraus, dass die Dorfbewohner den Wal doch nicht retten
konnten. Sein Fleisch kann jedoch verwertet und bei einem großen Weihnachtsmahl
zubereitet werden.
Ist das alles, samt „Happy End“ vielleicht doch ein wenig zu weich gespült? Mag sein. Die
frappierenden Parallelen zur Pandemie, die wir gerade erleben, sind beeindruckend. Gefallen
hat mir die Grundidee und verbunden damit auch für unsere Zeit die Hoffnung auf Solidarität,
Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit.
Anke Jährig
Das Taschenbuch ist im April im Fischer Verlag erschienen und kostet 12,00 €.
Davide Morosinotto „Verloren in Eis und Schnee“
Das Buch „Verloren in Eis und Schnee“ wurde von Davide Morosinotto
geschrieben. Es handelt von zwei Zwilligen, die im 2. Weltkrieg in
Russland um ihr Leben kämpfen. Wir befinden uns in Leningrad, Juni
1941, mitten im 2. Weltkrieg. Nadja und Viktor wohnen mit ihren Eltern
in einer Wohnung mitten in der Stadt. Als die Stadt Leningrad
gefährdet ist, muss der Vater gegen die Deutschen an der viel zu nahen
Front kämpfen und die beiden Zwillinge sollen mit den anderen
Kindern aus der Stadt evakuiert werden. Ihre Mutter gibt ihnen einen
wichtigen Ratschlag mit auf den Weg: sie sollen sich nie trennen. Doch
schon am Leningrader Bahnhof werden sie getrennt und
verschiedenen Zügen zugeteilt. Während Viktor an seinem Ziel, einem
Bauernhof in Sibirien, ankommt, wird Nadjas Zug von deutschen
Bombern angegriffen. Als Viktor das erfährt, begibt er sich mit ein paar
Freunden auf die Suche nach seiner Schwester.
Das ist der Beginn einer langen Reise mit vielen Gefahren und
Problemen. Deutsche Soldaten, die sie jagen und auch der russische
Winter, der an ihren Kräften zehrt. Die Zwillinge schreiben während der ganzen Zeit in ihr
Tagebuch. So wollen sie sich, wenn sie sich wieder treffen, ihre Geschichten erzählen. Viktor
berichtet auf diese Weise dem Leser von seinem Weg zu seiner Schwester und Nadja erzählt
vom Überleben auf einer Burg in der Nähe von Leningrad.
Ich finde das Buch toll, da es sehr spannend ist und man es sehr gut lesen kann. Aufgebaut
und gestaltet ist es wie die Tagebücher der Zwillinge, mit Bildern, Karten und
handschriftlichen Notizen. Wenn man erst einmal angefangen hat, kann man gar nicht mehr
aufhören zu lesen.
Ich würde dem Buch fünf von fünf Sternen geben. Empfehlen kann ich es für Kinder im Alter
von 12 bis 15 Jahren.
Terje Bröhan, 13 Jahre alt
Das Buch ist bei Thienemann erschienen (ISBN 978-3-522-20251-0) und kostet 18 €.
Carlos Maria Dominguez „Das Papierhaus“
Diese Erzählung beginnt mit dem wunderbaren Satz „Im Frühjahr 1998
kaufte Bluma Lennon in einer Buchhandlung in Soho eine alte
Ausgabe der GEDICHTE von Emily Dickinson und wurde an der
nächsten Straßenecke, als sie gerade beim zweiten Gedicht angelangt
war, von einem Auto überfahren“.
Bluma lehrte an der hispanistischen Abteilung der Universität
Cambridge. Bei dem Ich-Erzähler handelt es sich um Blumas aus
Südamerika stammenden Kollegen, der ihr Büro und ihre Vorlesungen
nach ihrem Tod übernehmen soll. Eines Morgens erhält der Erzähler
ein an die Verstorbene adressiertes Kuvert mit uruguayischen
Briefmarken, ohne Begleitschreiben, allerdings mit dem -real
existierenden– Buch DIE SCHATTENLINIE von Joseph Conrad. An dem
Buch klebt eine schmuddelige Kruste und die Blattkanten weisen
kleine Zementpartikel auf. In dem Buch entdeckt er eine Widmung von
Bluma, datiert auf das Jahr 1996, adressiert an einen Carlos, mit Bezug
„auf die verrückten Tage in Monterrey“. Nun ist die Neugier des
Erzählers geweckt und er beginnt, Nachforschungen anzustellen. Er erfährt die Adresse des
Absenders und reist nach Südamerika, um dem geheimnisvollen Carlos Brauer aufzuspüren,
doch dieser scheint verschwunden zu sein. Auf der Suche begegnet der Erzähler zwei von
Carlos´ bibliophilen Freunden, wovon der eine allein über eine Büchersammlung von 18.000
Exemplaren verfügt. Der Leser erfährt einiges über Ordnungssysteme (z.B. nie Bücher von
zerstrittenen Autoren nebeneinander platzieren) oder dass das Lesen der Literatur aus dem
19. Jahrhundert bei Kerzenschein angenehmer ist und dass man entsprechend der Bücher
die passende Musik auswählen kann, z.B. Wagner, wenn man Goethe liest. Der Erzähler
erfährt durch diese Freunde, dass Carlos noch weitaus mehr Bücher sein Eigen nannte und
geradezu besessen war vom Kaufen, Lesen und Sortieren seines „Schatzes“. Was dann
passiert, warum er auszog in die Lagune von Rocha, das sei hier nicht verraten. Erst zum
Schluss wird aufgeklärt, warum die Erzählung „Das Papierhaus“ heißt.
Der Autor beleuchtet die Bibliomanie aus verschiedenen Winkeln, beschreibt die Freude,
Bücherschränke von Bekannten zu inspizieren, den Aufwand, seine eigene Bibliothek in
Schuss zu halten, aber auch die zerstörerische Seite, wenn die Lesesucht und Sammelwut
zur Obsession wird.
Konstanze Weber-Feldman
Das Buch ist im Insel Verlag erschienen und kostet 8,00 €
Elisabeth Strout „Die langen Abende“
E.Strout, 1956 in Maine geboren, hat Jura studiert, aber früh erkannt,
dass sie lieber Schriftstellerin werden wollte - welch Glück für uns
Leser/innen.
In ihrem Buch „Die langen Abende“ treffen wir Olive Knidderridge
wieder, die einige von Ihnen vielleicht aus dem Buch „Mit Blick aufs
Meer“ kennen, für das E. Strout 2008 den Pulitzer Preis erhalten hat.
Eingebettet in die Rahmenhandlung um Olive finden wir eine
Sammlung miteinander verbundener Kurzgeschichten, die sich in
einer Kleinstadt in Maine abspielen. Alltägliche Ereignisse und
Einblicke in das Zusammenleben der Bewohner werden sehr
anschaulich geschildert. All diese Personen sind verknüpft mit der
Protagonistin Olive Knitterridge.
Olive Knitterridge, 70 Jahre alt, pensionierte Mathematiklehrerin,
inzwischen verwitwet, ist mit ihrer Einsamkeit und dem Alter
konfrontiert. Sie lernt Jack Kennison, ehemals Havardprofessor,
kennen, dem es nach dem Verlust seiner Frau ähnlich geht. Sie gehen das Wagnis einer
Beziehung im Alter ein und die Gedanken und Schwierigkeiten, die damit einhergehen,
werden sehr einfühlsam geschildert. Die Einsamkeit von Olive und Jack findet auch keine
Linderung durch ihre Kinder, denn beide haben ein gestörtes Verhältnis zu ihnen. Nach dem
Tod von Jack begleiten wir Olive weiter, lesen, wie sie mit dem Alter zurechtkommt und
begleiten sie ins Seniorenheim.
Olive ist wahrlich keine Sympathieträgerin, sie ist barsch, verletzend und mischt sich in alles
ein. Durch die anschauliche Schilderung ihres Innenlebens kommt man ihr aber sehr nahe,
wird in ihre Gedankenwelt hineingezogen und stellt dann erstaunt fest, dass man sie ins
Herz geschlossen hat. Es ist zu spüren, dass unter ihrer ruppigen Art eine empfindsame
Seele zu finden ist, die versucht, mit den Verletzungen des Lebens umzugehen. Mit
zunehmendem Alter gewinnt Olive die Einsicht, das Leben anderer gelassener zu nehmen.
Der Roman ist leicht erzählt trotz der schwergewichtigen Themen wie Verlust, Einsamkeit,
Alter, Tod und Reue. Diese Leichtigkeit bekommt der Roman auch dadurch, dass E. Strout
das Fach der Situationskomik meisterhaft beherrscht und man oft herzhaft lachen muss.
Ein Roman, der mit großem Einfühlungsvermögen und Mitgefühl auf die Menschen blickt
und den Wunsch in einem erzeugt, ähnlich liebevoll auf seine Mitmenschen zu blicken.
Karin Hartmann
Erschienen am 16.03.2020 im Luchterhand Verlag, 20 €
Willi Achten „Die wir liebten.“
Wer in den 60er Jahren geboren ist, durchlebt in diesem Buch noch
einmal die Welt der Eltern der Nachkriegsgeneration. Eine Zeit, in der
die Kinder gekleidet und genährt wurden, aber damit hatte es sich dann
auch schon. Milch wurde gegeben aber der Honig fehlte. Gefühle
hatten am Esstisch keinen Platz. So wie bei den Brüdern Roman und
Edgar, die Anfang der 70er, 13 und 11 Jahre alt sind und in einer
westdeutschen Provinz leben.
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des jüngeren, sensiblen
Edgar.
Der Vater ist Bäckermeister, die Mutter betreibt einen Toto- und
Lottoladen.
Die Ehe der Eltern geht in die Brüche als der Vater sich in die Tierärztin
verliebt und es kommt zur Scheidung, was in dieser Zeit noch als
undenkbar galt.
„Niemand aus der Familie, das wussten wir, hatte je seine Familie
verlassen. Trennung, Scheidungen gar, beging man in der Stadt, nicht im Dorf. So schlecht
eine Ehe sein mochte, sie hielt, wurde zumindest nicht aufgelöst. Sie wurde gestützt durch
ein Netz von Normen und Tabus. Eine Ehe war nicht nur ein Bund zwischen zwei Menschen,
sie war ein Pakt zwischen zwei Familien, und sie war auch eine Abmachung mit allen
anderen im Dorf, …“
Für die beiden Brüder beginnt mit der Scheidung, die mit allem Drum und Dran des damals
geltenden Schuldprinzips durchgeführt wird, eine soziale Abwärtsspirale bis eines Tages das
Jugendamt vor der Tür steht und die beiden in ein Heim steckt, dem „ Gnadenhof“, wo die
Methoden der Nazizeit fortbestehen.
Willi Achten beschreibt mit sehr viel Gefühl die Innenwelten dieser beiden heranwachsenden
Jungen. An manchen Stellen ist das Buch kaum auszuhalten. Es ist so temporeich erzählt,
dass man sich oft gehetzt fühlt und sich zwingen muss zu verweilen, damit diese intensiven
Bilder, die Willi Achten im Kopf erzeugt, nicht zu schnell an einem vorbeifliegen.
Dieses Buch wird auf jeden Fall zu den „Besten“ gehören, die ich in den vergangenen Jahren
gelesen habe.
Rita Körner
Das Buch ist im Februar 2020 im Hanser Verlag erschienen und kostet 22,00 €
David Garnett „Dame zu Fuchs“
Das Buch ist nicht neu. Es wurde bereits 1922 verlegt, allerdings unter
anderem Titel. Der Autor lebte von 1892 bis 1981. Er war nicht nur
Schriftsteller sondern auch Buchhändler, Verleger und Kritiker. Er
gehörte der legendären Bloomsbury Group um Virginia Woolf,
E.M.Forster und John M.Keynes an. Diese Menschen versuchten das
verstaubte viktorianische England in der ersten Hälfte des
20.Jahrhunderts intellektuell und künstlerisch aufzumischen. D.Garnett
hatte unzählige Affären und pflegte einen boheminischen Lebensstil.
Der schmale Roman, eigentlich eher eine Novelle, handelt von einem
jungen Ehepaar, den Tebricks, die sich glücklich und verliebt ins
ländliche Oxfordshire zurückziehen. Wir schreiben das Jahr 1880 als
das Paar einen Spaziergang durch das oberhalb ihres Anwesens
gelegene Wäldchen macht. In der Ferne sind Signalhörner von Jägern
zu hören, Hunde bellen. Mr.R.Trebick möchte einen Blick auf die
Jagdgesellschaft erhaschen, seine Frau Silvia geborene Fox, findet keinen Gefallen an dieser
Freizeitgestaltung englischer Gentlemen. Richard geht zum Waldrand. In dem Moment ertönt
ein Schrei und als er sich umdreht ist etwas Unglaubliches geschehen: „Wo eben noch seine
Frau gewesen war, stand, mit leuchtend rotem Fell, ein kleiner Fuchs."
Erst nach geraumer Zeit, in der sie sich fassungslos anstarren, brechen beide in Tränen aus.
Dann steckt Richard seine Silvia unter die Jacke und bringt sie nach Hause. Die geifernden
Hunde erschießt er, das Personal entlässt er.
Rührend fürsorglich kümmert Richard sich um die ins Tier mutierte Gattin, die zunächst
noch sehr zivilisiert versucht in dem häuslichen Umfeld zu leben. So hilft ihr der Gatte in ein
seidenes Morgenjäckchen, dass sie nicht nackt herumlaufen muss. Aber bald siegt die Natur
über die Zivilisation. Sie will nicht mehr am Tisch sitzen, verschlingt die gefangene Taube auf
Raubtierart, versucht aus dem Haus und dem Garten zu fliehen. Richard, der sie beschützen
will, versucht sie einzusperren aber auf Dauer gelingt es nicht.
.Die Geschichte ist ausschließlich aus der Sicht von Richard erzählt, so dass ein Blick in die
Gedankenwelt von Silvia nicht möglich ist. Sie ist aber in den Handlungen zu erkennen. Sie
handelt, Richard versucht zu reagieren, aber er ist zum Scheitern verurteilt.
Charmant und leicht wird diese Novelle erzählt. Ohne erhobenen Zeigefinger und Moral. Und
doch steckt viel emanzipatorischer Wille hinter den Worten.
Anke Jährig
Das Buch ist im btb Verlag erschienen und kostet 9,99 €
Isabel Bogdan „Laufen“
Wie bewältigt man eine schwere Lebenskrise?Die Ich-Erzählerin, eine
Hamburger Musikerin, entscheidet sich fürs Laufen. Zunächst kostet sie jeder
Kilometer Überwindung, doch allmählich schafft sie mehr und mehr Runden im
Hammer Park, um am Ende einmal um die Alster gelaufen zu sein.
„Laufen ist super, so schön stumpf, man muss gar nicht denken, ich kann
sowieso nur über das Laufen nachdenken und über meinen Körper und gar
nicht über den ganzen Mist…..Ich laufe mir die Grübelei weg.“
So macht sie sich auf den Weg, die Trauer und die Wut über den Suizid ihres
Lebensgefährten zu verarbeiten, um wieder zurück ins Leben und in einen
normalen Alltag zu finden.
Während ihrer Laufrunden gelingt es ihr, ihre Gedankenwelt zu sortieren und
im unaufhörlichen Selbstgespräch offenzulegen.
Was sich zunächst in Verzweiflung über Einsamkeit äußert
„...die haben doch keine Ahnung, wie hilflos man vor dem Bett steht und sich fragt, ob man jetzt
zwei Decken und Kopfkissen beziehen soll…., denn wenn man beide bezieht, sieht es so aus , als
käme da noch jemand.“
oder in qualvoller Auseinandersetzung über Schuld und Schuldgefühle
„…ich muss aus dem Schulddenken herauskommen, es war deine Entscheidung….. Aber wie soll
das gehen?“
wandelt sich allmählich in Wut über gut gemeinte Ratschläge ´
„Was überhaupt nicht hilft, sind diese Sprüche: das Leben geht weiter und der ganze Quatsch, was
soll das denn heißen, natürlich geht das Leben weiter.“
Mit der Hilfe von Freunden, ihrem Quartett, der Liebe zur Musik und dem unermüdlichen Laufen
kehrt sie nach 2 Jahren zurück in ein Leben mit Perspektive und zukunftsweisenden Plänen, mit
Gedanken an eine neue Liebe, ans Tanzen und etwas „Schönem zum Anziehen“.
„Wie soll es weitergehen? Wie wohl? Vorwärts, nicht mehr im Kreis.“
In schnellem Tempo---(laufend)---dabei wahrhaftig, warmherzig und berührend, reich an Metaphern
und feinem Humor schreibt Isabel Bogdan über Leben und Tod, Trauer, Verlust und das Leben
danach.
Ein Buch, das trotz der Schwere der Thematik viele tröstliche und hoffnungsvolle Momente
verspricht.
Brigitte Seng
Das Buch ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 18,00 €